Pokemon Lila Edition | Deutsches Creepypasta Wiki

Ich komme
von der Schule nach Hause. Meine Mutter ruft mir aus der Küche zu: „Hallo
Schatz. Das Essen ist bald fertig.“ Und fügt dann an: „Oh, bevor ich es
vergesse, da ist ein Paket für dich gekommen. Ich habe es Dir auf dein Bett
gelegt“.

Ich bin
etwas erstaunt, denn ich habe doch gar nichts bestellt?

Ich gehe auf
mein Zimmer und tatsächlich, es liegt ein Paket auf meinem Bett. Es ist eines
von diesen gepolsterten, braunen Kuverts. Ausser einer weissen Klebe-Etikette
mit meinem Namen drauf, ist es leer. Kein Post-Stempel, kein Absender. Es ist
auch kaum zerknittert. Hat es wohl jemand persönlich bei uns in den Briefkasten
gelegt? Aber wer?

Ich entscheide
mich, das Paket zu öffnen. Selbst jetzt, als ich es in der Hand halte, kann ich
mir nicht vorstellen, was darin sein soll.

Lila Edition

Ich reisse
das Kuvert auf und schütte den Inhalt auf mein Bett. Zwei Dinge kommen heraus. Eines
konnte ich eindeutig als lila Gameboy erkennen. Das andere war wohl ein Spiel
dazu. Pokémon stand darauf. Darunter in kleinerer Schrift „Lila Edition“. Auf
dem Cover ist eine Gestalt abgebildet, wohl ein Pokémon, welche mich an ein
Alien erinnert.

Pokémon
hatte ich natürlich schon gehört, aber auf meiner Privatschule reden wir selten
über solche Spiele. Mein Vater erlaubt mir das auch nicht. Er ist Chef in der
Entwicklungs-Abteilung einer sehr grossen Firma, welche Solarzellen herstellt.
Er ist auf diesem Gebiet eine der treibenden Kräfte. Er darf eigentlich nicht,
aber er spricht manchmal mit mir darüber, was er gerade entwickelt. Seit
einiger Zeit ist er an der Herstellung eines extrem leistungsstarken,
hauchdünnen und transparenten Solarmodules, welches sich jeder an seine Wohnungsfenster
kleben kann und so genügend Strom für sich selber und seine Nachbarn herstellt.
Mein Vater sagt, wenn in 3 Jahren diese Module bereit für die Serienfertigung
sind, wird das das Ende aller Atom und Kohlekraftwerke bedeuten, seine
Solarzellen werden Elektro-Autos antreiben und die Welt wird viel sauberer
sein.

Ich bin sehr
stolz auf meinen Vater.

Meine Mutter
reisst mich aus meinen Gedanken, da sie mich zum Essen ruft. Ich gehe die
Treppe runter ins Esszimmer und weiss schon, dass mein Vater nicht hier sein
wird. Er will seine Vision dieser Solarzellen erfüllen, was sehr löblich ist,
trotzdem müssen wir als Familie zurückstecken. Aber das verzeihe ich ihm.

Während dem
Essen fragt meine Mutter mich: „Schatz, was war denn in deinem Paket“?

Ich weiss
natürlich, wenn ich ihr sage was drin war, wird sie es mir wegnehmen. Ihr
„hochintelligenter, talentierte Sohn“ soll sich schliesslich nicht mit solchen
„Banausen-Video-Spielen“ das „Gehirn weich machen“. Meine Eltern setzen mich
mit ihren Erwartungen für meine Zukunft ziemlich unter Druck. Ich werde in eine
Rolle gedrückt, die ich gar nicht spielen will. Ganz ehrlich, ich bin nicht mal
gut in der Schule. Oft wünsche ich mir, ein normales Kind zu sein, draussen zu
spielen. Eine Wii zu haben anstatt zwei volle Bücherregale. Eine heisse
Schokolade trinken anstatt englischen Tee. Eine fettige, triefende Pizza beim
Lieferdienst bestellen, anstatt eine beim besten Italiener der Stadt zu essen.
Aber im Moment kann ich das nicht ändern.

Ich antworte
meiner Mutter: „Es war ein Buch über fortgeschrittene Algebra, das ich vor
kurzem bestellt habe“. Sie glaubt mir und geht nicht näher darauf ein. Das
restliche Essen verläuft ruhig.

Danach
erledige ich meine Hausaufgaben und wende mich dann dem Spiel zu. Ich weis
natürlich, dass es mich nicht „dumm“ machen würde, doch ich hatte bisher noch
nie mit sowas gespielt und hatte deshalb doch etwas Respekt davor.

Ich nehme
das Spiel und den Gameboy in die Hand und betrachte die beiden Dinge kurz. Es
gefällt mir, dass das Spiel und die Konsole dieselbe Farbe haben. Und auf
dem  Gameyboy sind weitere dieser
witzigen Pokémon abgebildet. Ich befördere das Spiel in die Konsole und drückte
den Ein/Aus-Schalter nach oben. Ein rote Licht leuchtet auf und das Spiel
startet.

Ich wähle
die Option „Neues Spiel“ und ich sehe ein kleines Intro aus der
Ich-Perspektive. Das Bild ist etwas verpixelt, aber das Gerät ist wohl auch
nicht aktuell.

Blubb

Es scheint,
als würde ich im Spiel meine Augen öffnen. Ich schaue auf sowas wie Luftblasen
unter Wasser. Die Musik, die das Gerät spielt, klingt nach einem blubbern, wenn
auch etwas dumpf. In einer Textbox erscheinen die Worte „blubb… blubb…“.

Wo bin ich

Nachdem ich die Taste A gedrückt habe,
erscheinen in der Textbox die Worte: „Wo… Wo bin ich?“. Danach schliesst sich
das Auge im Spiel wieder und das Display wird schwarz.

Endlich bist du wach

Nach etwa drei Sekunden,
in der die Musik wie ein Herzschlag klingt, erscheint eine Figur auf dem
Display. Sie trägt einen Anzug und fängt sogleich an, sich mit mir zu
unterhalten. Die Textbox zeigt mir einen Monolog: „Endlich bist du wach! Wie
lange habe ich auf diesen Moment gewartet! Du bist genau so, wie es mir versprochen
wurde! Sieh dich nur an, du strotzt vor Kraft!“

Giovanni dein Vater

Bis zu
diesem Moment verstand ich noch gar nichts. Er fuhr fort: „Oh, entschuldige,
ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich war die treibende Kraft hinter
deiner Erschaffung! Du bist mein Lebenswerk. Ich bin Giovanni, dein Vater!“.
Gut, langsam kommt etwas Licht in die Sache.

„Und
zusammen werden wir viel erreichen, mein Kleiner. Wir werden viel und hart
trainieren, aber das wird es wert sein. Nun gehe deine ersten Schritte und
lerne, mein kleiner Mewtu!“.

Lerne mewtu

Nun erscheint
eine andere Figur auf dem Bildschirm, die ich wohl spielen sollte. Sie
verkleinert sich aber rasch und steht nun in sowas wie einem Labor. Erst jetzt fällt
mir auf, dass auf dem Gameboy zwar Color steht, aber das Display mir das Spiel
monochrom anzeigt, also ohne Farben. Ich studiere aber nicht zu lange an diesem
Detail herum. Ich merke, dass ich im Spiel nun die Kontrolle über die Figur
übernehmen kann, die eben geschrumpft worden ist.

Mewtu Labor

Ich laufe
also etwas in dem Labor herum, doch es gibt keinen Ausgang. Nach etwa 5 Minuten
ziellosem herumirren erscheint eine Textbox: „Giovanni: Nun Kämpfe, mein junger
Mewtu! Werde stark! Zeige deinen Gegnern und mir, wie unfassbar stark du bist!“.

Erster Kampf

Es erklingt
eine nervöse Musik und der Bildschirm wird schwarz. Ich befinde mich scheinbar
in einem Kampf. Mein Gegner ist eine Kreatur namens Taubsi. Unter dem Namen steht
„L:5“, was wahrscheinlich Level heisst. Bei mir steht dasselbe. Ich drücke auf „KMPF“
und bekomme zwei weitere Auswahlmöglichkeiten: „Psychokinese“ und „Psywelle“.
Ich wähle Ersteres. Der Bildschirm blinkt einige Male und der Balken, der wohl
den Gesundheitszustand des gegnerischen Pokémon aufzeigt, leert sich innert
wenigen Augenblicken. Eine Textbox zeigt: „Taubsi wurde besiegt! Du erhälst 30
EP!“. Ich verstehe den Sinn dahinter nicht ganz, doch ich habe wohl gewonnen.

Zweiter kampf rattfratz

Ich
sehe wieder meine Figur in der Vogelperspektive und eine weitere Textbox
erscheint: „Giovanni: Sehr gut, mein Kleiner! Nur weiter so!“. Ich kann meine
Figur nun wieder steuern. Doch nach nur einem Schritt erklingt erneut die nervöse
Musik, das Display wird schwarz und mein zweiter Kampf beginnt. Mein jetziger
Gegner heisst Rattfratz und befindet sich wie das Taubsi zuvor auf Level 5. Ich
gehe vor wie beim letzten Kampf, der Gegner ist nach einer Attacke von mir
besiegt. „Rattfratz wurde besiegt! Du erhälst 30 EP! Du erreichst Level 6!“.
Wie nach dem letzten Kampf

erscheint wieder eine Textbox:  „Giovanni: Nur weiter so! Du wirst stärker!“.
Wieder kann ich nur einen Schritt machen und ein weiterer Kampf beginnt. Ich
kämpfe gegen diverse Pokémon und der Ablauf ist immer derselbe: Ich besiege sie
mit einer Attacke, erhalte EP und erreiche hin und wieder ein weiteres Level,
der Kampf endet, eine Textbox erscheint, in der Giovanni mich in kurzen Sätzen zum
Weitermachen motiviert oder lobt, ich kann einen Schritt gehen und ein weiterer
Kampf beginnt. Immer nach etwa 15 dieser Kämpfe erscheint eine Textbox, in der
steht: „Du trainierst so fleissig, ich bin so stolz auf dich! Ruh dich kurz aus“.
Daraufhin wird das Display schwarz, eine kurze, witzige Melodie erklingt,
danach kann ich meine Figur wieder steuern (bezw. Einen Schritt machen, dann
beginnt der nächste Kampf). Der einzige Unterschied, der mir danach immer
auffällt ist, dass diese Zähler, die es bei meinen Attacken anzeigt, wieder auf
demselben Stand sind. Man kann diese Attacken wohl nur begrenzt wiederholen,
doch wenn ich mich „ausruhe“, sind sie wieder aufgefüllt. Ich habe den Sinn
dieses Spieles noch nicht ganz durchschaut, aber trotzdem macht es mir Spass,
wie ich Giovanni damit zufrieden mache und geniesse sein Lob. Mein Vater ist
überhaupt nicht so, er lobt mich nie. Egal, was ich ihm zeige, es ist nie gut
genug und er gibt mir Verbesserungsratschläge. Ich denke nicht, dass er das
böse meint, doch seine Erwartungen an mich sind auf einem sehr hohen Niveau.

Ganz ehrlich,
wäre ich nicht durch das gute Haus, aus dem ich komme privilegiert, wäre ich
ein schlechter Schüler. Ich lerne nicht sehr schnell. Hätten die Lehrer in
meiner Privatschule wegen der kleinen Klassen nicht so viel Zeit, um die
Aufgaben mit jedem Schüler einzeln zu besprechen, wäre ich verloren. Ich hasse
es, dass ich auf diese Privatschule gehe. Es ist gut für meine Zukunft, aber
womit habe ich mir das verdient? Ich habe doch noch nie selber Geld verdient
oder etwas Grosses geleistet. Nur weil mein Vater einen gutbezahlten Job hat,
soll ich eine bessere Ausbildung bekommen als die Kinder, die ich manchmal auf
der Strasse spielen sehe, wenn ich mit dem Schulbus nach Hause fahre? Das Leben
ist nicht gerecht.

Ich habe gar
nicht gemerkt, dass meine Gedanken so abgedriftet sind. Meine Uhr auf dem
Nachttisch zeigt schon 21:30 Uhr. Ich drücke bei meinem Gameboy auf Start und
finde eine Option um meinen Spielstand zu speichern. Danach mache ich mich fürs
Bett bereit, sage meiner Mutter gute Nacht und lege mich hin. Mein Vater ist
wohl immer noch bei der Arbeit…

Bald schlafe
ich ein.

Am nächsten
Morgen in der Schule kritzle ich lustlos in meinem Notizheft herum, anstatt
mich auf den Schulstoff zu konzentrieren. Ich versuche die Figur zu zeichnen,
die ich in meinem neuen Spiel darstelle, doch es will mir nicht so recht
gelingen. Ich bin aber zugegeben auch kein besonders guter Zeichner. Ich will
lieber wieder nach Hause und sehen wie es in meiner Lila Edition weitergeht,
anstatt hier in der Schule zu sitzen.

Als ich am
Abend nach Hause komme gehe ich gleich auf mein Zimmer und hole den Gameboy
unter der Matratze hervor, unter der ich ihn gestern versteckt hatte.
Ich schalte ihn ein und als erstes bekomme ich eine Textbox angezeigt: „Giovanni:
Da bist Du ja wieder! Hast Du dich schön ausgeruht? Bist Du bereit,
weiterzukämpfen und noch mehr Stärke zu erlangen?“. Obwohl ich die Frage im
Spiel nicht wirklich beantworten kann, denke ich mir: „Ja, ich bin bereit.“

Ich
verbringe den ganzen Abend mit dem Spiel und unterbreche nur kurz, als meine
Mutter mich zum Essen ruft. Mein Vater ist wieder nicht da. Ich verhalte mich
ganz normal, da sie ansonsten noch etwas von meiner neuen Leidenschaft
mitkriegt. Nach dem Essen sage ich, dass ich noch etwas lernen gehe. Meine
Mutter stört das natürlich nicht und wenn ich lerne, lässt sie mich in Ruhe.
Ich habe nicht wirklich vor zu lernen, ich will nur in meinem Spiel
weiterkommen. Als ich auf mein Zimmer gehe, fällt mein Blick kurz auf meinen
Schulranzen, aber ich lasse ihn liegen wo er ist, ich kann ja später noch
lernen.

Ich spiele
weiter, besiege ein Pokémon nach dem anderen und nach jedem Kampf lobt mich
mein Vater Giovanni und lässt mich hin und wieder kurz ausruhen. Ich habe im
Spiel mittlerweile Level 16 erreicht, auch meine Gegner werden immer Stärker.
Doch auch die Level 20 Pokémon, die ich nun antreffe, haben meiner Psychokinese
nicht viel entgegenzusetzen. Jedes gegnerische Pokémon schlage ich mit einem
Mal, ich selber wurde noch nie angegriffen. Ich spiele weiter bis ich Level 25
erreiche, dann ist es auch schon wieder spät und ich verstecke meinen Gameboy
wieder. Von meinem Vater fehlt noch immer jede Spur, er kam gestern wohl spät
und ging heute früh. Die Arbeit ist wohl wichtiger als die eigene Familie. Als
ich im Bett liege, denke ich über Giovanni nach. Er ist nur eine pixelige Figur
in einem Videospiel, trotzdem übt er eine gewisse Faszination auf mich aus. Er
scheint ein fleissiger, gebildeter Mann zu sein. Und ich bedeute ihm wohl etwas,
er ist ja immerhin mein Vater. Und er ist stolz auf mich. Bei diesen Gedanken
schlafe ich ein.

Die nächsten
Tage laufen ziemlich ereignislos ab. Einmal, als ich morgens zur Toilette gehe,
sehe ich kurz meinen Vater, doch er ist schon unterwegs zur Arbeit und wünschte
mir nur im Vorbeigehen einen guten Morgen. Seine ach-so-wichtige Arbeit ruft
ihn wohl. Man muss ja Prioritäten setzen.

Ich
verbringe eigentlich meine gesamte Freizeit an meinem Gameboy. Ich nehme ihn
auch zur Schule mit und spiele während dem Unterricht heimlich unter der Bank
oder verstecke mich in der grossen Pause vor den anderen Kindern, damit ich in
Ruhe spielen kann. Meinen Freunden muss ich das gar nicht erst versuchen zu
erklären, für die ist Schule wichtiger. Ich konzentriere mich wieder auf die
Schule, wenn ich das Spiel durchgespielt habe.

Ich weis
immer noch nicht, wem ich dieses Geschenk zu verdanken habe, aber es ist mir
auch zu dumm, jeden Einzelnen meiner Freunde und Verwandten danach zu fragen.
Der noble Spender wird sich schon noch zu erkennen geben.

Es ist früh
morgens und ich wache auf, meine Mutter ist in meinem Zimmer. Sie hat mich geweckt.
Ich habe den Alarm meines Weckers verschlafen, denn ich habe bis spät in die
Nacht unter meinem Nachtlicht meine lila Edition gespielt. Ich befinde mich nun
auf Level 58.

Meine Mutter
schaut mich an, während ich mir den Schlaf aus den Augen reibe und fragt mich: „Wer
ist Giovanni? Du hast diesen Namen gesagt, als ich dich das erste Mal versucht
habe zu wecken.“

Ich bin
etwas erstaunt, dass ich diesen Namen gesagt haben soll, erfinde jedoch die
Ausrede, dass Giovanni eine historische Berühmtheit aus dem Geschichtsunterricht
ist. Sie ist mit dieser Aussage zufrieden. Mein Vater hat sie bestimmt nicht
wegen ihrer Intelligenz geheiratet.

Nach der
Schule spiele ich mein Spiel weiter, auch wenn ich in der Schule einiges
nachzuholen hätte. Aber das interessiert mich nicht. Ich will mehr von Giovanni
hören. Hören, wie stolz er auf meine Stärke ist. Dass ich sein vollendetes Lebenswerk
bin. Dass ich ihn zu einem glücklichen Vater mache. Giovanni ist immer für mich
da. Jemand, der nur aus ein paar Pixel in einem Video-Spiel besteht und den ich
seit dem Intro nicht mehr gesehen habe, ist mehr für mich da als mein echter
Vater.

Nach einem
Kampf, durch den ich Level 80 erreicht hatte, erscheint eine Textbox von
Giovanni: „Bald bist du so weit.“ Diese 5 Worte, so einfach sie sein mögen,
brennen sich in mein Gedächtnis ein. Ich werde bald so weit sein! Bald geht es
weiter!

„Bald bist
du so weit.“

Ich spiele noch
etwas weiter, nichts Aussergewöhnliches passiert mehr. Ich lege mich heute
etwas früher schlafen als den Rest der Woche, da ich doch etwas ausgepowert
bin. Und ich muss mich ausruhen, denn bald bin ich so weit. „Bald bist Du so
weit“, sagte Giovanni. Mit diesen Worten in meinen Gedanken, entgleite ich in
den Schlaf. Ich träume von den Kämpfen und ich träume von Giovanni. Von
Giovanni, meinem Vater. Meinem echten Vater.

Am nächsten
Morgen wache ich auf. Ich bin schnell wach denn ich fühle eine Spannung in der
Luft. Wird mein heutiger Tag anders verlaufen, als ich erwarte?

Ich habe
meinen Vater seit drei Tagen nicht mehr gesehen. Aber das ist mir egal. Was
bildet der sich eigentlich ein? Seine Familie so im Stich zu lassen. Wie
wichtig kann so eine dumme Solarzelle denn bitte sein?

Aber ich
habe ja Giovanni. Er ist für mich da, er lobt mich, er baut mich auf. Er
motiviert mich zum Weitermachen.

Die Schule
verläuft ohne Zwischenfälle und der Tag geht schneller zu Ende als befürchtet.

Ich komme
nach Hause und widme mich wieder meinem Spiel. Ich habe Level 98 erreicht. Ich
spiele immer weiter, besiege Pokémon um Pokémon. Keiner von meinen Gegnern kann
ein Level über 100 aufweisen, deshalb denke ich, dass das die höchste Stufe
sein muss, die erreicht werden kann. Bald werde ich auch auf diesem Level sein.
Sehr bald. Bald bin ich so weit. „Bald bist du so weit“, wie Giovanni zu mir
sagte.

Ich gewinne
einen Kampf nach dem anderen und erreiche tatsächlich Level 100.

Du bist nun so weit

Zum ersten
Mal seit ich das Intro gesehen hatte, das war vor drei Wochen, erscheint wieder
Giovanni auf dem Bildschirm. Er ist genau so, wie ich ihn in Erinnerung habe.
Gepflegt, höflich, eine starke Dominanz ausstrahlend. Ein Alpha-Tier. Er sagte erneut
fünf Worte, die in mir etwas auslösen. Er sagt: „Du bist nun so weit“.

Ich lege
meinen Gameboy hin und gehe die Treppe runter in unser Esszimmer. Mein Vater
sitzt dort und isst sein Abendessen. Ich konnte nicht wissen, dass er dort
sitzt, doch ich hatte es geahnt. Ich gehe den langen Tisch entlang, bis ich
neben ihm stehe. Ich schaue ihm tief in die Augen und sage langsam und
deutlich: „Du bist nicht mein Vater.“

Der Blick,
den er mir daraufhin zuwirft, ist eine Mischung aus Erstauntheit, Verwirrtheit
und etwas Ärger. Ohne meinen Blick von ihm zu lassen greife langsam ich nach
dem scharfen Messer, das auf dem Tisch neben seinem Teller liegt. Ich schaue
ihm in die Augen, als ich das Messer mit aller Kraft in seinen Bauch ramme. Er
versteht zuerst gar nicht, was passiert ist und realisiert erst einige
Augenblicke später, was ich getan habe. Er beginnt zu keuchen und schaut mich
mit einem Blick an, den ich noch nie gesehen habe. Es ist der Blick eines
sterbenden Menschen.

Ich gehe auf
die Knie damit ich mit ihm auf einer Höhe bin, denn er sitzt noch immer auf seinem
Stuhl, lege behutsam meine Arme um ihn, wie bei einer Umarmung und flüstere
leise in sein Ohr: „Giovanni ist mein Vater“. Ich lasse ihn los und er sinkt zu
Boden. Ich fühle nichts. Ich setze mich auf den Boden und lehne mich an die
Wand an, meinen Vater dabei beobachtend, wie er langsam stirbt. Wie seine
Atmung langsamer wird, wie er langsam aber sicher den Kampf verliert. Jeder der
mich zum Kampf herausfordert, verliert. Giovanni wird stolz auf mich sein. Ich
habe jeden Kampf gewonnen, auch diesen. Er hat gesagt, ich bin bereit und das
war ich. Er hat an mich geglaubt. Er wird stolz sein. Giovanni. Mein Vater.

Ich denke
nur an meinen richtigen Vater, Giovanni, und bekomme nicht mit, wie meine
Mutter das Zimmer betritt und es schreiend wieder verlässt. Die Sanitäter die
kommen. Die Polizei, die mich abführt. Meine weinende Mutter. Es ist mir egal.
Es gibt nur noch mich und Giovanni. Mich und meinen richtigen Vater. Meinen
stolzen Vater. Giovanni.

In der
nächsten grossen Stadt sitzt ein Mann an seinem Schreibtisch. Er ist anständig
angezogen, doch man sieht ihm an, dass er nicht anständig ist. Er ist einer von
der üblen Sorte.

Ein weiterer Mann
betritt sein Büro, er sieht aus wie ein Schläger aus einem Low-Budget-Film. „Auftrag
ausgeführt, Boss“. Er legt einen lila Gameboy auf den Schreibtisch seines Vorgesetzten.
Im Gameboy steckt ein Spiel, das ebenfalls Lila ist. „Ich konnte den Gameboy rechtzeitig
aus dem Haus holen, bevor es von der Polizei nach Beweisen durchsucht wurde.
Der Vater hat wie geplant nicht überlebt. Der Junge sitzt in einer Isolierzelle
und schreit schon den ganzen Tag lang verzweifelt nach seinem echten Vater. Der
Test hätte nicht besser laufen können.“
Der Mann im Anzug, der Boss, hebt erst jetzt seinen Kopf. Er spricht die Worte:
„Gut gemacht. Gib unseren Technikern Bescheid, dass sie weitere Kopien des
Spiels anfertigen sollen. Du kümmerst Dich darum, dass diese Spiele samt
Konsolen an alle Kinder ausgeliefert werden, deren Väter unseren Plänen im Weg
stehen. Wir sind nun so weit.“


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